Die Marktmenschen
Wachstum! Wachstum! Mit bebender Stimme und weit ausgebreiteten Armen wird das Wort biblisch in die Welt gerufen. Denn nur wenn wir wachsen, könnten wir den Status Quo beibehalten. Klingt erstmal paradox. Doch so propagiert es der moderne Glaube an den alles beherrschenden Markt.
Ein frommes Wesen geht in dieser Gesellschaft 40 Stunden in der Woche arbeiten. Im Gesundheitsbereich (und nicht nur dort) dürfen jetzt gar offiziell 60 Stunden gedient werden. In Wahrheit drehen die Betroffenen seit März Tag und Nacht im Hamsterrad, um die restliche Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Sie sind unsere Helden – und um in der sakralen Metapher zu bleiben – unsere Heiligen. Zum Dank geben wir ihnen alles, was das Wachstum hergibt: Geld. Mit der Gießkanne wird es in Unmengen über das ganze Land gegossen, in der Hoffnung, es möge noch wachsen. Doch in Wahrheit gibt es weder Heilige, noch Helden. Beide Begriffe sind Überbleibsel einer alten Welt. Heute gibt es nur Erschöpfte und Müde. Alles was sie wollen ist Ruhe, Zeit für sich selbst und Zeit mit der Familie. Unsere Gesellschaft wurde durch die Krise wachgerüttelt. Erstmals sehen wir nach langer kapitalistischer Trunkenheit klarer und wir erkennen allmählich, wohin wir die letzten Jahrzehnte getorkelt sind. Wir sehen die Schneide der Verwüstung in den Regenwäldern und Ozeanen. Wir erkennen die Fesseln der modernen Sklaverei. Wir haben uns dem menschengemachten Konstrukt Markt dermaßen unterworfen, dass wir alle Wunden des Systems mit seiner Währung zupflastern. Geld ist nicht nur die Lösung für alles, es heiligt auch die Mittel. Das Glück der Bevölkerung messen wir nur noch daran, ob sie genug arbeitet oder genug verdient. Wachstum! Dabei wollen wir doch nur Mensch sein und humane Arbeitsbedingungen. Wachstum! Wir wollen Zeit für uns selbst und mit unseren Liebsten. Corona! Wer ist denn der Mensch am Boden? Was sagt er? Er will, dass es aufhört? Gib ihm Geld, das hilft vielleicht.
Doch es hört nicht auf. Das Jahr 2020 klingelt in allen Ohren wie ein Wecker. Wir müssen erkennen, dass wir eben nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Das alte Leben hat uns schließlich in unsere jetzige Lage geführt. Die systemrelevanten Berufe werden nun durch die Krise gepeitscht. In Zukunft wissen wir, dass wir nicht mehr in Krankenhäusern mit Betten und Personal sparen sollten. Ebenso wenig können wir Menschen wie Waren einkaufen und verschleißen lassen. Weil wir Menschen nun mal keine Waren sind.
Georges Sold
Source: Journal.lu